OBIs und REWEs selbst gewählter Verzicht auf gedruckte Werbeprospekte und Handzettel sorgt über die Grenzen Deutschlands für Aufsehen. Auf den ersten Blick scheint dieser Verzicht erstaunlich! Gehören diese Werbemittel doch zu den am meisten verbreiteten: rund neun von zehn der Empfänger:innen lesen diese – zumindest gelegentlich. Was steckt dahinter? Welche Herausforderungen ergeben sich aktuell für die Marktbearbeitung? Eine Einschätzung.
Autor: Christoph Spengler
In wenigen Jahren werden wir uns sicherlich darüber amüsieren, dass wir mal Papier-Handzettel aus dem Briefkasten gefischt und nach kurzem Durchblättern bündelweise im Altpapier entsorgt haben. Die Digitalisierung verändert die Marktbearbeitung schneller und schneller und macht so auch mit alten Ritualen Schluss. So schnell, dass die Baumarktkette OBI bereits seit Juni auf gedruckte Schweinebauchwerbung verzichtet und diese durch die App ersetzt. Bei REWE soll der Druck und die Verteilung auf den 1. Juli 2023 eingestellt werden. Und schon fast vergessen ist in dieser Dynamik, dass der schwedische Möbelriese Ikea 2020 entschieden hat, den Katalog - eines der weltweit auflagenstärksten Druckerzeugnisse - einzustellen.
Eine kleine Motivforschung bei Werbungtreibenden zeigt, dass es bei Weitem nicht mehr nur um Reichweiten und Tausenderkontaktpreise geht. Qualitative Kriterien werden immer relevanter. Einige Gedanken unserer Auftraggeber:innen dazu:
- «Wertorientierung»: Ist Briefkasten-Werbung mit einer werteorientierten Markenführung überhaupt vereinbar? Will die Marke mit Briefkasten-Werbung in Verbindung gebracht werden?
- «Ökologie»: Immer mehr Unternehmen wollen ihre Kampagnen CO2-neutral und umweltschonend umsetzen. Die Emissionen, die bei der Produktion und Distribution entstehen, sollen zum Beispiel über Investitionen in lokale und globale Klimaschutzprojekte kompensiert werden.
- «Druckkosten»: Aktuelle Umfragen bei Druckereien und Werbungtreibenden in der DACH-Region im Kontext der Russland-Ukraine-Krise zeigen, dass die Papier- und Rohstoffpreise um 50 bis 100 Prozent gestiegen sind, genauso wie auch die Logistikkosten. Der Trend zeigt steil nach oben.
- «Budget»: Nicht selten machen gedruckte Werbeprospekte und Handzettel einen grossen Budgetposten bei Werbungtreibenden aus. In den letzten Jahren habe ich mit Auftraggeber:innen zusammen Budgets optimieren dürfen: Bei einigen machte gedruckte Werbung sogar über 50 Prozent bzw. mehrere zehn Millionen aus. Daher stellt sich berechtigterweise die Frage, was man mit dem Geld sonst noch alles machen könnte.
Digitale Briefkasten auf dem Vormarsch
Ziemlich unausgegoren wäre es nun, unadressierte Briefkastenwerbung pauschal zu «bashen». Auch macht es wenig Sinn, digitale gegen analoge Massnahmen auszuspielen. In der jetzigen Kommunikationswelt gibt es schliesslich immer mehr Briefkästen. Und so geht es in einer effizienten und effektiven Marktbearbeitung doch darum, die beste Kombination an analogen und digitalen Touchpoints zur Zielerreichung zu ermitteln und zu nutzen.
Zum Ursprung aller digitaler Newsletter: dem E-Mail-Newsletter. Beruflich motiviert beobachte ich diese schon seit vielen Jahren. Gefühlt geht es im B2C oder gar B2H in 80 Prozent der Interaktionen um Preisangebote, ganz klassische Schweinebauch-Werbung eben. Verkehrt ist das bestimmt nicht, sofern damit Zusatzumsätze generiert werden können. Die (potenziellen) Kund:innen sollen dazu bewegt werden, häufiger ins Geschäft oder den Onlineshop zu kommen und mehr zu kaufen - und dabei denke ich jetzt gar nicht an Dark Patterns.
Doch zurück zur Newsletter-Family, welche nicht nur Push-Nachrichten wie z.B. E-Mail oder SMS umfasst, sondern immer mehr verschiedene Social-Kanäle wie z.B. LinkedIn oder Instant-Messenger wie z.B. WhatsApp. Umso spannender ist es, die WhatsApp-Werbung von REWE mal näher anzuschauen. Ich hab’s gemacht und war von der Einfachheit positiv überrascht: REWEs Knaller der Woche erhalte ich jetzt direkt auf WhatsApp.
Schon seit längerem bin ich es mir gewohnt, dass Newsletter mit fetten Prozenten täglich meinen elektronischen Briefkasten fluten. Beim Stöbern stelle ich jedoch immer wieder fest, dass die meisten Marken sich beim Werben um die Gunst der Kund:innen kaum unterscheiden. Wenig überraschend haben Shopper:innen diese Schnäppchen-Strategie bereits durchschaut und bewegen einen Warenkorb nur noch bei über 25 Prozent Rabatt in Richtung Kasse.
Ich weiss nicht, wie es Ihnen geht, aber grossmehrheitlich funktionieren Newsletter immer noch nach dem «Giesskannenprinzip». In Zeiten von Kundenzentrierung, Marketing-Automatisierung und Artificial Intelligence könnte man doch erwarten, dass Newsletter mit «Perfect Fit» Angeboten inkl. «One-Click Buying» daherkommen. Zukunftsmusik?
Postwurfsendungen aktivieren
Fakt ist, dass es den physischen Postwurfsendungen auch heute gelingt, viele Haushalte zu erreichen. Meistens sind es ältere Shopper:innen, die sich durch diese inspirieren lassen. Nichtsdestotrotz haben Aktionsflugblätter & Co in den letzten Jahren vor allem auch durch die «Bitte keine Werbung»-Kleber kontinuierlich an Reichweite verloren. Zu den Verweiger:innen gehören vor allem Jüngere in den Metropolregionen mit überdurchschnittlichen Haushaltseinkommen. Eine attraktive Käuferzielgruppe, auf die es viele Händler und Produzenten abgesehen haben.
Will man aktuellen Studien zum Informationsverhalten bei der Suche nach Aktionen und Rabatten im Einzelhandel glauben, so hat das Internet (30 bis 40 Prozent Reichweite) bei den sogenannten Babyboomern (55 bis 65 Jahre) die Postwurfsendung (20 bis 25 Prozent Reichweite) als Touchpoint in der Customer Journey mittlerweile überholt. Nicht nur die Jungen sind also digital unterwegs.
Mittendrin in der digitalen Transformation
Als Grundhypothese darf sicherlich angenommen werden, dass die digitalen Touchpoints auch bei der Verkaufsförderung weiter im Vormarsch sind. Welcher Touchpoint den physischen Briefkasten ersetzen wird, bleibt mitten in der Transformation ein offenes Rätsel. Gesucht sind neue planbare Interaktionsformen, mit welchen die Zielgruppen unter nachhaltigen Aspekten (wirtschaftlich, ökologisch und sozial) erreicht und aktiviert werden können. Dabei kann auch eine Kombination verschiedener Touchpoints zum Einsatz kommen, um die Zielgruppe zu erreichen, die bisher vom Touchpoints «Postwurf» bedient wurden. So könnte die Wirkung des Touchpoints «Postwurf» in Bezug auf Abverkauf und Marke kompensiert werden.
Es ist klar, dass die Digitalisierung kein einmaliges Projekt, sondern vielmehr ein kontinuierlicher Prozess ist. Die beschriebenen Beispiele zeigen durchaus tiefgreifende Veränderungen, bei welchen ein vertieftes Markt- und Kundenwissen zentral für die besten Entscheidungen ist. In unserem Praxisalltag begegnen wir aktuell häufig folgenden Themen:
- «Zielgruppenverhalten»: Für die Marktbearbeitung lohnt es sich, das Informations-, Kauf- und Verwendungsverhalten von tatsächlichen und potenziellen Kund:innen fundiert auszuleuchten und relevante Unterschiede herauszuarbeiten.
- «Externe Validierung und Vernetzung» (Mix Modelling) von analogen und digitalen Touchpoints: Aufgrund der Dynamik ist es von Vorteil, die Touchpoints aus der Sicht von (potenziellen) Kund:innen zu messen. Substanzielle Performancepotenziale können erschlossen werden, wenn neben den Paid Touchpoints vor allem auch Owned und Earned in die Analyse miteinbezogen und vernetzt werden.
- «Personalisierte Inhalte»: Individualisierte Zielgruppenansprache mit digitalisierten Geschäftsprozessen wie z.B. Newsletter mit Perfect Fit, Live-Chat
Last but not least: Einer der grössten Papierverbraucher Europas mit Blick auf Prospekte und Werbebeilagen, die Schwarz- Gruppe (Lidl und Kaufland), hat vor einigen Tagen eine Papierfabrik in Deutschland gekauft. Es bleibt also spannend.
Der Original-Text wurde publiziert auf horizont.net:
Horizont - Geht die "Nachhaltigkeit" der Papierwerbung an den Kragen? - 10/2022