Mit dem Touchpoint «Kunden-Login» öffnet sich bekanntlich das Tor zum digitalen Markenerlebnis, zur grossen, weiten Erlebniswelt. Nicht selten wird dieser Prozess für Kunden zu einem ungewollten Hindernislauf. Das Call Center sollte dabei nicht die Notaufnahme für unverständliche oder gar fehlerhafte Prozesse werden – das ist verschwendetes Potenzial und für Kunden ein Ärgernis. Warum?
Ein wenig «Verschieberitis» haben wir doch alle. Corona hat zwar bereits ziemlich aufgeräumt – der Keller und die Garage sind seit Monaten blitzblank, der Kleiderschrank ist ausgemistet – doch ist es mit derartigen, häuslichen To-do’s ja wie mit Unkraut: beides wächst beständig nach.
Entsprechend wartete in meinem Pendenzenkörbchen bis vor kurzem auch etwas eigentlich äusserst Angenehmes: die brandneue TV-App meines Providers. «Unendlicher TV-Genuss auf Ihren Tablets, PCs oder Mobiles» versprach die Werbung. Eine ellenlange Senderliste, Replay, Aufnahmen und vieles mehr - cool! Eigentlich, denn: aufgrund der bisher gemachten Erfahrungen gehören solche Themen bei mir privat vorsichtshalber ins «Release und Deployment Management»: bei Updates und Apps kommt es auch im privaten Ökosystem zu mitunter unangenehmen Komplikationen und diese gilt es dann ohne spezialisierte, interne IT-Fachabteilung zu lösen. Ich jedenfalls plante mir diese «Operation» für das nächste Wochenende ausserhalb der eigenen vier Wände ein.
App herunterladen und los geht’s
Mit dem Mehr an digitalen Möglichkeiten sind auch die Anforderungen an den eigenen, eingebauten Speicher aka Gedächtnis gestiegen. Vorbei sind die Zeiten, als alle meine Passwörter noch sehr ähnlich aussahen und sich aus meinem Geburtsort und ein paar wechselnden Zahlen zusammensetzten. In jüngerer Zeit ähneln sie aus Sicherheitsüberlegungen mehr ägyptischen Hieroglyphen und meine Synapsen sind schlichtweg überfordert, diese zu memorisieren. Glücklicherweise gibt es immer mehr hilfreiche Gadgets, die einen dabei unterstützen.
Als seit mehr als 20 Jahren loyaler Kunde beziehe ich TV-, Internet- und mein Mobile-Abo beim selben Provider. Ich geniesse die Vorteile eines Always-logged-in-Kundenerlebnisses: Einfach drücken! In diesem Mindset machte ich mich an das Upgrade. Die neue App war rasch heruntergeladen – und fragte dann auch gleich nach meinem Passwort. Mein Passwort-Gadget blendete sogleich unterschiedliche Passwörter für meinen Provider ein, welche ich schön der Reihe nach abarbeitete. Ohne Erfolg. Kann das sein? Passwort wirklich vergessen? Ich malte mir schon aus, dass durch ein Zurücksetzen an verschiedensten Orten die Lichter ausgehen könnten. Höchstes Vorsichtsgebot – Sie wissen, was ich meine.
Mission impossible
Wer nicht wagt, der nicht gewinnt: Ich wählte die Rubrik «Passwort vergessen» und startete die Prozedur. Eine Zwei-Faktor-Authentifizierung per SMS wurde aktiviert. «Identifikations-Code wurde versendet», hiess es. Dann wartete… wartete… und wartete ich. Nichts passierte. Neuer Versuch. «Identifikations-Code wurde versendet». Erneut wartete ich vergeblich. Lag es an der Verbindung? Alle guten Dinge sind drei, sagte ich mir. Weiterhin absolute Funkstille. Langsam, aber sicher überkamen mich Selbstzweifel: Bin ich unfähig? Oder – zu meiner Ehrenrettung – liegt es vielleicht an einer technischen Störung?
Hotline als letzte Rettung? Ich gab mir einen Ruck und griff zum Telefon. Um 21:00 Uhr am Samstagabend ist die Warteschleife sicher nicht sehr lange – so nahm ich zumindest an.
Das dachten sich allerdings ausser mir wohl noch einige andere Kunden und so verbrachte ich den zeitlichen Gegenwert einer Folge meiner Lieblingsserie, die ich im Optimalfall bereits jetzt hätte anschauen können, mit Beschäftigungstherapie-Googeln in der Begleitung von nervtötender Wartemusik in Endlosschlaufe.
«Guten Abend!», sagte eine wirklich sympathische Frauenstimme endlich ruhig. «Kann ich helfen?» Ich war gelandet, irgendwo! In die ursprüngliche Erleichterung, mein Problem einem Menschen anvertrauen zu können, mischte sich schnell das Gefühl der eigenen Inkompetenz, als ich berichtete, was mir eben widerfahren war. Unzählige Fragen lenkten meinen Erlebnisbericht in Richtung der Problemlösung:
«Sind Sie zu Hause?»
«Nein, wieso?»
«Alles klar: Diese Authentifizierung funktioniert nur bei Ihnen daheim.»
«OK!»
«Und wir haben drei verschiedene Logins.»
«Ehrlich?»
«Ja!»
«Danke. Und warum gibt es keinen Hinweis?»
«Weiss ich nicht, aber Sie sind nicht der Einzige!» – was mich etwas mit meinen Erlebnissen versöhnte.
Der langen Rede kurzer Sinn: Nach 30 Minuten Hotline (ohne Warteschlaufe) und knapp einer Stunde Selbstversuch hatte ich die Tür zum neuen Markenerlebnis aufgestossen. Film ab und entspannt zurücklehnen!
Das Potenzial des Touchpoints «Call Center» ausschöpfen
Will man Studien zum Inhalt der Anliegen glauben, die in Call Centern bearbeitet werden, stehen Login-Probleme seit Jahren auf den Spitzenplätzen der Pain Points: je nach Branche machen sie zwischen 20 % und 40 % des Anrufvolumens aus. Damit ist der Touchpoint «Kunden-Login» ein grosser Arbeitsbeschaffer für das Call Center – und das ist eindeutig verschwendetes Potenzial in der Touchpoint-Bewirtschaftung.
Die Zufriedenheit der eigenen Kunden ist der heilige Gral für Unternehmen. Diese zu finden ist heutzutage eine Herausforderung. Die Differenzierung über Technik und Prozesse ist zwar möglich, aber längst nicht so effektiv: Mit funktionierender Technik gewinnen Sie keinen Blumentopf, diese wird vorausgesetzt. Den entscheidenden Unterschied in den Augen der Kunden machen Sie mit aussergewöhnlichem Service und positiven Kundenerlebnissen.
Übertragen auf mein Call Center-Erlebnis bedeutet das: Selbst wenn Sie die kompetentesten, zuvorkommendsten Call Center-Mitarbeitenden der Welt haben – Ihr Kunde wird sich trotzdem höchstens mit lauwarmen Gefühlen daran zurückerinnern, wie eben diese Mitarbeitenden sein Login-Problem – also ein eigentlich völlig vermeidbares und standardisierbares Problem – gelöst haben.
Seine volle Wirkung kann ein Call Center in ganz anderen Fällen entfalten – nämlich, wenn es um Nicht-Standard-Fälle geht: individuell auf die Kundenbedürfnisse abgestimmte Beratung oder die Lösung von wirklich speziellen Problemen beispielsweise. Im Gespräch lassen sich komplizierte Sachverhalte einfacher klären und Missverständnisse treten gar nicht erst auf. Gleichzeitig sind Call Center ein vergleichsweise kostengünstiger, direkter Draht zum Kunden, der es erlaubt, kontinuierlich seinen Puls zu fühlen.
Wofür ein Touchpoint in der Realität eigentlich genutzt wird (zum Beispiel als Beschwerdeannahmestelle) und ob das eine bestmögliche Nutzung desselben darstellt (in diesem Beispiel nicht), merken Sie nur, wenn Sie beziehungsweise eine verantwortliche Person (zum Beispiel CMO? CTO? Customer Experience Manager?) die einzelnen Touchpoints anhand aussagekräftiger KPIs konstant monitoren und gegebenenfalls Massnahmen ergreifen, um gegenzusteuern. Lassen Sie sich diese einfache Möglichkeit, die Customer Experience zu verbessern, nicht entgehen!
Der Original-Text wurde publiziert auf cmm360.ch:
https://www.cmm360.ch/notaufnahme-call-center
cmm360 - Notaufnahme Call Center? 2/2021