Die Corona-Pandemie sorgt bei Unternehmen, Organisationen, Mitarbeitenden und Kunden für einen regelrechten Digitalisierungsschub. Mit mehr Binärkodierung soll alles schneller, besser und kostengünstiger werden, so auch die Prozesse im Kundenservice. Ist dem wirklich so? Und gerät dabei nicht der Kunde aus dem Fokus?
Autor: Christoph Spengler
Der Kauf meiner neuen Wanderschuhe liegt weniger als vier Wochen zurück. Für mich als Outdoor-Freak war das eine grosse Aktion: ich habe gegoogelt, Tests gelesen, verglichen und mich auch im Bergsportgeschäft beraten lassen. Kompliment! Natürlich habe ich dort auch gekauft – alles andere verbietet sich nach einer einstündigen Beratung von selbst. Wanderschuhe mit leuchtend orangefarbigen Schnürsenkeln.
Reibungslose Abwicklung reicht nicht
Getrübt wurde meine Freude bei der zweiten Wanderung: Beim Anziehen riss der Schnürsenkel - was natürlich vorkommen kann, aber dennoch nicht sein müsste. Da mich interessierte, wie dieser Bagatellfall gehandhabt wird, begab ich mich auf eine kleine Mystery-Shopping-Tour. Die Beraterin im Bergsportgeschäft empfahl mir freundlich, mich direkt per Mail an den Hersteller zu wenden, da sie sonst eine Bearbeitungsgebühr verrechnen müsse. Passt schon! Ich verfasste gleich eine Nachricht an den Hersteller in Italien und der Autoresponder bestätigte «Wir haben Ihre Anfrage erhalten, sie wird von unserem Customer Care Team bearbeitet».
Nach wenigen Stunden meldete sich Franco: «Hast du den Händler gefragt, ob er dir ein Paar schicken kann, da das Produkt im Rahmen der Garantie ersetzt wird? Würdest du uns bitte ein Foto des gerissenen Schuhbändels und eine Kopie des Kaufbelegs senden?» Rasch erledigte ich die mir übertragenen Aufgaben. Am Morgen darauf hatte ich die nächste Mail von Franco im Posteingang: «Vielen Dank für deine Rückmeldung. Könntest du uns bitte ein Foto des Etiketts in der Schuhlasche schicken und die genaue Länge des Schnürsenkels mitteilen?» Langsam war ich zwar etwas über den entstandenen Aufwand irritiert, machte mich aber trotzdem auf die Suche nach meinem Massband. Franco’s Nachricht am nächsten Tag: «Wir werden dir ein Paar in 205cm Länge schicken. Könntest du uns bitte mitteilen, welche der beiden Farben du bevorzugen würdest? Die orangefarbigen Schnürsenkel gibt es leider nicht mehr». Schon fast am Ziel: «Hallo Christoph, vielen Dank für deine Rückmeldung. Ein Paar Ersatzschnürsenkel werden morgen verschickt…». Nach einer Woche hatte ich mich schon an den netten Schnürsenkel-Talk gewöhnt. Der Ersatz kam per Post in einer übergrossen C3-Karton-Versandtasche. Und nicht überraschend fand ich dann auch noch eine kleine Kundenbefragung in meinem Postfach: «Wie waren Ihre jüngsten Erfahrungen mit uns? Ihre Meinung ist uns sehr wichtig! Bewerten Sie jetzt unseren Service und tragen Sie aktiv dazu bei ihn zu verbessern.»
Kurz zusammengefasst: Ich hatte wegen eines Paars Schnürsenkel mehr als zehn Interaktionen und musste eine Reihe von Aufgaben erledigen, damit mein Anliegen nach über einer Woche endlich gelöst war. Meine Interaktionen bei der Fallabwicklung wurden klar durch die standardmässigen Prozessschritte bestimmt. Ich wurde jederzeit korrekt und freundlich betreut. Aber: Wäre dieser Fall nicht schneller und einfacher bearbeitbar gewesen?
Zuerst der Prozess, dann der Kunde – oder andersherum? Ein schwieriger Trade-off.
In einer idealen Welt wären Prozessdenken und Kundenbedürfnisse kein Widerspruch – doch in der Praxis kann sich ein aus Unternehmenssicht «guter» Prozess für den Kunden trotzdem mühsam anfühlen. Denn die Vorteile der Standardisierung aus Unternehmenssicht – Zuverlässigkeit, Verringerung des individuellen Handlungsrisikos der verantwortlichen Mitarbeitenden, Qualitätssicherung und Kostenkontrolle – führen im Umkehrschluss dazu, dass ein Prozess sehr statisch daherkommt und der Kunde sich in der Individualität seines Anliegens trotzdem nicht verstanden fühlt. Allerdings: weder eine umfassende, steril wirkende Prozessstandardisierung noch die vollkommene Ausrichtung auf die Wünsche jedes einzelnen Kunden bei totaler Kostenexplosion und Überforderung der Organisation führen für sich genommen zum Erfolg. Die ausgewogene Mischung macht’s. In der grundsätzlichen Organisation sollte ein Kompromiss gefunden werden, der sowohl für Kunden als auch das Unternehmen stimmt. Und bei den Details ist dann etwas Flexibilität gefragt…
Positive, erzählbare Markenerlebnisse schaffen
Das Beispiel mag auf den ersten Blick eher nebensächlich, gar belanglos erscheinen. Ebenso verhält es sich mit seiner wirtschaftlichen Bedeutung für das Unternehmen. Dessen ungeachtet sind aber trotzdem genau solche Markenerlebnisse prägend. Denn Menschen fällen Entscheidungen mehrheitlich aufgrund ihrer gemachten Erfahrungen. Das beeinflusst die Marken- und Produktwahl und auch, was sie ihren Kollegen oder Freunden erzählen. Um Kunden wirklich zu begeistern und sich vom weitverbreiteten Einheitsbrei abzuheben, müssen Marken positive, erzählbare Erlebnisse schaffen, die für Kunden relevant sind. So entsteht letztlich Loyalität und Markenpräferenz.
Eigentlich ist es für jeden Mitarbeitenden wertvoll, regelmässig undercover als vermeintlicher Kunde mit Fragen und Wünschen mit dem eigenen Unternehmen in Kontakt zu treten, um dadurch mehr über die guten und weniger guten Kundenerlebnisse zu erfahren, die tatsächliche aktuelle Kunden und potenzielle Interessenten haben (könnten). Erfahrung ist der beste Lehrmeister – auch in der Frage, wie man den Kunden zum König macht. So mag das eigene Erleben als guter Ausgangspunkt dienen, um die organisationale Prozessstandardisierung sorgfältig gegen das Kundenerlebnis abzuwägen. Kulanz, Charme sowie eine Portion Spontanität sind doch die besten Zutaten für ein WOW-Erlebnis oder nicht? Und nicht zu vergessen: Mehr Flexibilität und Entscheidungskompetenz machen auch den Mitarbeitenden im Kundendienst-Team mehr Freude bei der Arbeit.
Der Original-Text wurde publiziert auf cmm360.ch:
https://www.cmm360.ch/unternehmen-denken-in-prozessen-kunden-aber-in-erlebnissen
cmm360 - Unternehmen denken in Prozessen - Kunden in Erlebnissen! 12/2020